Die ISI-Ausstellung „Sichtbar&Sein“ in der Botschaft von Mexiko. Ein Gespräch mit Shahla Payam und Cristina Cipolletta

Am Dienstag 13. Februar 2024 fand die Vernissage der Ausstellung “Sichtbar&SEIN – Migration, Frauen und künstlerische Identitäten“ in der Botschaft von Mexiko statt. Mehr als 300 Besucher*innen haben die eindrucksvolle Veranstaltung miterlebt. Ihr seid die Initiatorinnen des Projekts, wie kam es zu diesem Kunstprojekt und zu der Ausstellung?

Cristina Cipolletta (C.C.): ISI e.V. hat seit mehr als 30 Jahren eine klare Aufgabe: Frauen mit Migrationsgeschichten zu stärken, sie auf dem Weg in die wirtschaftliche und persönliche Selbständigkeit zu unterstützen und ihre gesellschaftliche Teilhabe und Sichtbarkeit zu erhöhen. Das Kunstprojekt ist eines von mehreren Projekten, die diesem Ziel dienen. Wir möchten Künstlerinnen dabei unterstützen, von ihrer Inspiration und ihrem Talent zu leben und ihre Migrationsgeschichte als Bereicherung und Mehrwert in ihre Arbeit einzubringen.

Der Weg in die Selbständigkeit ist für migrantische Frauen generell nicht leicht. Welche sind aber die besonderen Herausforderungen, mit denen Künstlerinnen mit Einwanderungsgeschichte konfrontiert sind?

Shahla Payam (S.P.): Künstlerinnen mit Einwanderungsgeschichte stehen vor vielen Hürden. Oft fehlen ihnen Kontakte, Netzwerke und finanzielle Ressourcen, um als Kunstschaffende ihre Existenz zu sichern. ISI als etablierter Verein kann hier Brücken bauen und durch Kontakte, Kooperationen und Partnerschaften Möglichkeiten schaffen, die für Einzelne schwer zugänglich sind. Wir haben bei diesem Projekt starke Partner, die engagiert zu dem Erfolg beigetragen haben und denen wir sehr dankbar für ihre Unterstützung sind: Das Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft, die Botschaft und das Kulturinstitut von Mexiko sowie mehrere Sponsoren. An dieser Stelle möchte ich die außerordentlichen Bereicherung, die wir durch die Unterstützung von Isabella Spies von Ludwig Erhard Forum für Wirtschaft und Gesellschaft und die Kuratierung der Ausstellung durch Andrea Agraz Rodriguez gewinnen dürften. 

Wie nutzt ISI e.V. seine Ressourcen und sein Ansehen als Plattform und Sprungbrett für Künstlerinnen mit Migrationsgeschichten?

C.C.: Die Kunstausstellung ist ein Teil unseres umfassenden Ansatzes zur Unterstützung von Frauen mit Migrationsgeschichten in allen Bereichen der Selbstständigkeit. Wir analysieren individuell die Bedürfnisse, welche die Frauen mitbringen, und die Anforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, und passen unsere Unterstützung entsprechend an. Die Idee ist nicht nur die Kunstausstellung selbst. Um erfolgreich zu sein, braucht es umfassende berufliche Sachkenntnis. Deshalb unterstützen wir Frauen dabei, sich individuelle Karrierewege zu erschließen, ihr Wissen als Selbstständige praxisnah auszubauen und ihre Werke öffentlich zu präsentieren durch Kurse, Coaching und Mentoring zu Themen, welche sie in die Lage versetzen, die eigene Existenz als Kunstschaffende zu sichern, also auch zu wirtschaftlichen Fragen, vom Marketing bis zu den Steuern. Dies ist die Basis, auf der ISI dann eine Plattform und ein Sprungbrett bieten kann, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es geht darum, Kontakte zu vermitteln, Netzwerke zu knüpfen und eben auch unmittelbar die Sichtbarkeit der Künstlerinnen in solch einer Ausstellung zu erhöhen. Dies schafft eine Win-Win-Situation, bei der auch der Verein und seine Projekte profitieren.

Mit solch einer Ausstellung tritt ISI stärker als mit seinen anderen Aktivitäten in die Öffentlichkeit. Wie trägt die Kunstausstellung dazu bei, den Dialog über Migration zu fördern?

S.P.: Die Kunstausstellung ermöglicht es ISI, das volle Spektrum seiner möglichen Aktivitäten auszuschöpfen und sich in neuen Feldern zu engagieren. Sie bietet auch die Chance, den Migrationsdialog stärker im Kulturbereich zu akzentuieren. Durch unsere Teilnehmerinnen verfügen wir über ein immenses Potenzial an Talenten, die nur darauf warten, sich zu entfalten. Das versetzte uns in die Lage, diese Ausstellung mit hohem künstlerischen Niveau und einer über Erwarten erfolgreichen Vernissage zu organisieren.Während meiner Begrüßungsrede habe ich die Geschichte von Hodja Nasrettin geteilt, die symbolisch für ISI und seine Arbeit steht. Es ist die Geschichte von Hodja, der im Meer einen Löffel Yogurt umrührt. Ein Freund geht an ihm vorbei und fragt ihn, was er da macht. Hodja schaut auf das Meer und antwortet: “Ich mache Buttermilch!” Sein Freund entgegnet verwundert: “Du bist völlig verrückt! Wie kannst du im Meer mit einem Löffel Yogurt Buttermilch machen?” Hodja antwortet daraufhin: “Du hast recht, mein Freund… das scheint unmöglich zu sein… Aber stell dir vor, wenn es doch möglich wäre, wie fantastisch wäre das!” Während meiner Zeit als Vorstandsmitglied von ISI habe ich immer wieder erlebt, wie Visionen trotz anfänglicher Schwierigkeiten und scheinbarer Unmöglichkeiten Realität werden können. Dieses Vertrauen möchten wir an alle Frauen bei ISI weitergeben und sie ermutigen, sich zu trauen.

Das ist eine sehr schöne Geschichte! Für die einzelnen Künstlerinnen ist diese Ausstellung sicherlich ein intensives Erlebnis. Wie hilft der individuelle Prozess des Neuanfangs und persönlichen Wachstums Frauen dabei, sich an neue Lebensumstände anzupassen und ihr persönliches Potenzial zu entfalten?

C.C.: Frauen mit Migrationsgeschichten müssen lernen, souverän mit dem Unbekannten und den Herausforderungen des Neuen umzugehen. Das erfordert Mut und Resilienz –  Eigenschaften, welche Frauen, die sich in einem neuen Land behaupten, in ausreichendem Maße mitbringen. Wir erleben das bei unseren Teilnehmerinnen, die durch Krieg oder politischen Umwälzungen fern von ihrer Heimat leben muss oder sich aufgrund ihres Emanzipationsprozesses oder ihrer Entscheidung, ihrem Partner in ein fremdes Land zu folgen, auf die Reise begeben. In jedem Fall geht es darum, sich selbst zu vertrauen, Kraft zu schöpfen und die Herausforderungen der neuen Lebensumstände anzunehmen. Es ist ein Prozess der Neuorientierung und des Wachsens über die eigenen Grenzen hinaus und der Bereicherung, die sich daraus für die einzelne Frau selbst und für ihr Umfeld ergeben kann.